Beiträge von miguel

    Die Frage ist, ob das Beeten und Lieder Singen zu dem gehört, was an Religion wesentlich ist. In vielen Religonen, wahrscheinlich auch solchen, die du anerkennen würdest, wird es nichtmal gemacht. Man kann es als Rest aus dunkler Vorzeit (die ich auch als unreligiös kritisert habe) ansehen, oder sagen, dass dies mehr ein Erlebnis von Gemeinschaft ist (offenbar sind gemeinsame Formeln, und Körperhaltungen auch in totalitären Systemen nicht unüblich). Wieso weiterhin Religion möglichst simpel denken? Die Beispiele sind eigentlich absurd simplifiziert

    Jetzt muss ich exakt sein. Du hast gesagt, dass religiöse Menschen Gott in einer Weise für real halten, dass sie zu ihm beten. Das bedeutet für mich, dass sie Gott als Wesen das irgendwo in der Welt hockt denken. Und damit haben sie eine Vorstellung von Gott, die klarerweise aus "Gott existiert" auch tatsächlich ne Existenzaussage machen; für mich ist das dann irgendwelcher Kinderkrams, aber religiös ist es nicht gerade.
    Die Beispiele, die von der Seite solcher Religionskritik kommen, müssen offenbar immer solche sein, die nicht nur ironisch überspitzen sondern die religiöse Situation total übersimplifizieren. Ihr bezieht euch erstaunlicherweise nie auf Leute, die über ihren Glauben reiflich reflektiert haben (was allerdings natürlich auch nicht automatisch heißt, dass sie da mein Konzept vertreten).
    Ich möchte mal Beispiele für Sätze bringen, die Welt in einem bestimmten Sinne deuten; Sätze, die man als Kind vielleicht als metaphysische Tatsache versteht, die viel tiefer aber erst werden wenn man sie metaphorisch nimmt.
    "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
    Gott sprach: Es werde Licht."
    "Der Mensch ist das Ebenbild Gottes."
    "Er schuf Eva aus einer Rippe von Adam." (Ich bin mit der mittelbaren Aussage davon übrigens nicht einverstanden).
    Kein Mensch, der älter als 12 ist und in nem normalen Elternhaus lebt, stellt sich unter diesen Szenen vor, dass da irgendson Geist über dem Wasser war und "Es werde Licht!" gegen so ne tosende Urflut geschrien hat. Und kein Mensch glaubt im ernst, dass Eva aus der Rippe von Adam geschaffen worden ist, oder sieht es bloß als Tatsache an, dass Gott mal im Schuppen stand und nen paar Haufen Erde zu Adam gemacht hat. Wenn man mal Beispiele nimmt, wo Leute ganz berühmte Bibelstellen nicht einfach ganz platt lesen, ist es doch auch sehr plausibel und nicht hinterweltlich, was ich sage. Dieselbe Operation, mit der wir aus "Er schuf Eva aus einer Rippe von Adam" etwas anderes als die Vorstellung von Gott, wie er das Skalpel an Adams Brustkorb anlegt, gewinnen (nämlich eine tiefere Bedeutung) muss nun auch bei Sätzen wie "Es gibt Gott" geleistet werden. Das ist eine riesen Aufgabe, und ich weiß auch nicht, wie man das metaphorisch ausdeuten könnte. Aber diese Aufgabe betrifft diejenigen, die das christliche Erbe religiös ansehen. Dass dies möglich ist glaube ich in jedem Fall; aber es ist hoch abstrakt.

    Die Ansicht, nach der Religion eine Welterklärung ist, gibt sich selbst das riesen Rätsel auf: warum haben Leute daran geglaubt? Wenn Religion tatsächlich eine Welterklärung sein sollte, dann wäre es doch total idiotisch, völlig gegen die Wahrnehmung des einfachen Mannes gehende Sachen zu sagen. Die Ansicht, nach der Religion die Aufgabe einer Erklärung hat, macht total unplausibel, warum die religiösen Narrative und mythischen Erklärungen derart ausgeschmückt werden, und zwar so, dass eigentlich kein Mensch daran aufgrnud seiner Alltagserfahrung ernst in einem wörtlichen Sinne glauben kann.

    Selbst wenn man sich auf Christentum, Islam usw. beschränken wollte; dann kann immernoch nur dann von der Erfüllung der religiösen Funktion gesprochen werden, wenn die zugrundeliegende Schrifttradition nicht als Metaphysik oder Tatsachenbericht angesehen wird. Das heißt kurzgesagt: die Konzeption, die ich entwickelt habe, kann durchaus auch das unter sich auffangen, auf das ihr euch beschränken wollt. Vielleicht hätte ich das im Beitrag vorher erwähnen sollen, denn dann hätten wir das Geplänkel direkt übergehen können, und ihr hättet nochmal handfeste Argumente auftischen können.

    Bisher muss ich nämlich sagen, habe ich das Gefühl, dass ihr euch insbesondere auf der letzten Seite auf mich zubewegt habt. Ihr scheint anzuerkennen:
    -Sinnstiftung kann nicht durch rein deskriptive Aussagen geleistet werden
    -Wenn Religion Sinnstiftung leistet, dann kann die religiöse Tradition nicht als rein deskriptiv verstanden werden

    Wo ihr noch nicht angesetzt habt, war, ob die Funktion von Religon tatsächlich Sinnstiftung ist. Aber ich glaube, das ist ein zu vernachlässigendes Problem.

    So fangt ihr mich aber nicht - denn ich habe mehrfach betont, dass Religion sich durchaus nicht auf Theismus oder jahrtausendealte Erzählungen berufen muss/sollte, und dass ich auf keinen Fall der Apologet des Christentums nun bin. Ich habe die Willkürlichkeit der Erzählung hervorgehoben, Beispiele für ganz andere als christliche und religiöse Überzeugungen gegeben, die man frei nach gusto vielleicht für in unserer Zeit passender halten kann. Religiös können ach ganz neue Überzeugungen oder Geschichten sein, die sich frei von Altlasten fühlen.

    Einen schon angesprochenen Punkt möchte ich nochmal vorbringen, und vielleicht noch einmal etwas expliziter machen.
    Du hast mehrmals davon gesprochen, dass Religion a) vermag, eine Sinnstiftung zu leisten, und das wegen b) großer metaphysischer Spekulationen. Mich stört diese Ansicht garnicht, du hast dich hier meiner Position genähert; aber du hast noch nicht die Konsequenzen daraus gezogen.
    Der Punkt, der mich stört, ist, dass du diese metaphysischen Erzählungen rein deskriptiv ausdeutest. "Gott existiert" interpretierst du - wie ich schon sagte - als die ontologische Aussage, dass es eine Entität gibt, die Gott heißt. "Gott existiert" liest du wie "Joe Cocker existiert" oder "Mein Handy existiert". Durch rein deskriptive Aussagen kann ich aber nie eine Sinnstiftung vornehmen (sonst wäre, wie gesagt, jede Diskussion überflüssig). Wenn die metaphysische Erzählung als solche als ein Tatsachenbericht, als ontologischen Aussagen über die Existenz von Entitäten in der echten Realität ernst genommen wird, dann verliert sie diesen Charakter. Der Punkt ist, dass, wenn du Religon die Funktion (a) zuschreibst, sie diese nicht durch das Fakt (b) erfüllen kann. Dann besteht zwischen dem Vermeintlichen Fundament der Sinnstiftung (b) und der Sinnstiftung (a) kein Zusammenhang. Für die Funktion von Religion, für das, was Religion ist, kann (b) dann ersatzlos gestrichen werden.
    Eine (Fundierungs-/Verursachungs-) Beziehung zwischen (b) und (a) kann ich nur herstellen, wenn ich aufhöre, den metaphysischen Ratenschwanz von Religion als Metaphysik ernst zu nehmen. Wenn ich es als eine unverbindliche Erzählung begreife, als eine Metapher. "Gott existiert" ist dann keine Aussage mehr über (vermeintlich, wie ich gerne mit euch sage) existierende Entitäten, sondern ist eine Metapher, ist eine ganze Weltdeutung. Ein Verhalten zu Tatsachen, und keine Beschreibung zu Tatsachen.
    Erzählungen wie die Schöpfungsgeschichte kannst du als Metaphysik oder Tatsachenbericht nur ernst nehmen, wenn du nicht behauptest, dass die Funktion von Religion Sinnstiftung ist. Die Frage, auf die alles für mich hinauszulaufen scheint, ist nur noch, ob man sein Leben als sinnvoll deuten muss oder das eine Praxis ist, die anthropologisch ist, also sich bei jedem Menschen findet. Wenn jeder Mensch sein Leben als sinnvoll deuten muss, und man sagt, das Religion zum Teil diese Funktion übernimmt, dann kann man nicht mehr sagen, dass Religion ein Tatsachenbericht ist.

    Der Punkt, um den es mir beim "füreinander da sein"-Beispiel schlicht und einfach ging, ist, dass er nicht einer rein rationalen überlegung entspring, dass sich vernunft nicht selbst (aus sich heraus) legitimieren kann. Ich meine, es ist klar, dass es gut und berechtigt ist, dass wir alle das so praktizieren; die Frage ist einzig und allein, ob es eine Verhaltensweise ist, die alleine durch Rationalität hervorgerufen wird. Überlebensinstinkt ist glaube ich ebenfalls etwas nicht-rationales; welchen Grund sollte es schließlich für mich geben, überleben zu wollen? Er hat vielleicht eine Ursache, und ist damit den Naturwissenschaften (Evolutionstheorie) zugänglich; aber er hat keinen Grund (wahrscheinlich ist die Antwort darauf eine religiöse). Ich wollte nichts an unserem normalen Verhalten hier in Frage stellen, sondern nur deutlich machen, dass wir dieses nicht als bloß aus unserer Rationalität aus sich selbst heraus begründet ansehen können.
    Kann man Normativität alleine aus Rationalität schöpfen? Ich behaupte, dass das in keiner Weise möglich ist, die rational befriedigend argumentiert. Was ich sagen möchte ist: moralische Normen sind nicht oder nicht im ersten Moment eine Sache von logischen Schlussfolgerungen, sondern von Intuitionen, Gefühlen, Trieben usw. Vernunft selbst hat keine Macht, nichtmal normative Reichweite. Aus ihr heraus können alleine keine Zwecke gesetzt werden.

    Ich will nochmal darauf hinweisen, dass alle Beispiele, die zur Kritik von Religion hier angeführt wurden, immer die gleiche übersimplifizierte Struktur haben, dass sie durch einfache wissenschaftliche Aussagen oder durch wirklich klare Intuitionen widerlegt werden. Was Commo kritisiert ist nicht unbedingt Religion. Genausogut kann man das Wort Religion in seinem Beitrag streichen und durch "Parapsychologie", "Astrologie" oder in manchen Sinnen des Wortes auch "Metaphysik" ersetzen. Du schreibst im Wesentlichen nicht gegen Religion, sondern gegen wild spekulierende Nichtwahrheit.
    "Diese Antworten funktionieren zwar, sie geben dem Leben tatsächlich einen Sinn, sie basieren aber alleine auf deskriptiven Aussagen der Vergangenheit, die als falsch entlarvt wurden." Wenn wir alleine auf der Basis deskriptiver Aussagen Sinn stiften könnten, wäre diese ganze Diskussion überflüssig - denn dann kann Rationalität alleine bereits alles leisten. Rationalität kann wahrscheinlich nicht einmal eine verbindliche(re) normative Orientierung spenden; dass sie die Welt nicht als sinnvoll ausdeuten kann, nicht "absolute Kontingenzbewältigungspraxis" werden kann, hast du soweit sogar selbst zugegeben.
    Ich möchte kurz skizzieren, warum ich gegenüber Rationalität als Quelle von Normativität extrem skeptisch bin. Dein Beispiel mit dem füreinander da sein z.B. zeigt mir zwar, dass es ein in Bezug auf einen bestimmten Zweck rationales Verhalten ist, für andere da zu sein (genau dann, wenn ich den Zweck verfolge, dass sie für mich da sind); aber es sagt mir schlicht und einfach nicht, aus welchen rein rationalen Grund ich überhaupt möchte, dass andere für mich da sind. Man hat es hier mit nichts, was aus der Rationalität selbst kommt zu tun - womit die prinzipiell Autonomie von Rationalität in moralischen Fragen falsifiziert ist. Bei diesem einfachen Beispiel mag man sagen, es sei banal; aber derselbe Zusammenhang produziert ähnliche Beispiele in größeren Problemen.

    Ich glaube nicht, dass der $MEINE_BEHAUPTUNG-Teil tatsächlich nur meine subjektiv-unverbindliche Ansicht einer Idealreligion darstellt, völlig fern von jedem "Realverständnis" von Religion. Ich gehe von einer Prämisse aus, die keiner von euch verneinen würde: Religion unterscheidet sich von Wissenschaft nicht nur inhaltlich sondern in einem strukturellen Sinne. Ich glaube zwar nach wie vor, dass eure Kritiken diesen Punkt implizieren, denke aber auf keinen Fall, dass ihr ihn auch tatsächlich vertreten würdet. Oder glaubt ihr, Religion ist eine Wissenschaft mit nur einem anderen Inhalt? Oder dass Wissenschaft eine andere Religion ist? Es ist dies wohl die Inkonsistenz, die ich bei euch wahrscheinlich eigentlich anprangern möchte - dass ihr Religion zwar mit Sicherheit nicht als Wissenschaft oder als von wissenschaftlicher Struktur anseht, dann aber auch nicht die Konsequenz zieht, dass Religion eben auch nicht Wissenschaft ist, mit ihr keine Schnittmenge hat.

    Übrigens denke ich, dass man das, was du zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse gesagt hast, auf alle Wissenschaften verallgemeinern kann - sogar auf so "harte" Wissenschaften wie es die Physik zu sein scheint.

    In deinem Beitrag hast du weitgehend meine Anregungen aus #64 nicht aufgenommen. Weiterhin betrachtest du Religion a) in einer historischen Perspektive und b) denkst du Religion sehr theistisch. Das musst du auch tun, denn sonst würde deine Kritik nicht greifen, wie mir aufgefallen ist. Du könntest Religion nicht durch Wissenschaft/Vernunft/Philosophie ersetzen, würdest du sie nicht karikieren (durch a) und b) tust du das). Dein Beitrag hat mich inspiriert, die Dinge klarer fassen zu können (nichts desto weniger er falsch ist).

    Die These, die du verteidigen möchtest, ist sozusagen: Religion kann durch Rationalität (Wissenschaft, Philosophie, Vernunft) ersetzt werden. Rationalität kann all das leisten, was Religion auch leistet (das bringt es nochmal knackig auf den Punkt).
    Der Punkt, wegen welchem wir es interessant fänden, alles aus Rationalität heraus zu begreifen, ist gleichzeitig auch der Grund, warum diese Religion nicht ersetzen kann. Das spannende an der Rationalität ist ja, dass sie alle Aussagen in einen Rahmen von Verbindlichkeit stellt: entweder wahr/falsch (deskriptive Aussagen) oder adäquat/inadäquat (normative Aussagen). Rationalität ist ohne Verbindlichkeiten schlicht nicht vorstellbar und wird durch sie als solche erst interessant.
    Davon abgesehen, dass die Aufgabe der Sinnstiftung, Daseinsbewältigung aber von der Rationalität nicht erfüllt werden kann, unterscheidet sich die Religion in noch einem Punkt von der Rationalität. Die Religiösen Aussagesysteme stehen in keinerlei Rahmen von Verbindlichkeit. Wir haben es im Bereich der Religion mit fiktionalen Überzeugungen zu tun, denen schlicht und einfach kein Wahrheits- oder Adäquatheitswert, denen keine Verbindlichkeit zukommt. Solange Religion einen von der Rationalität verschiedenen Bereich bildet (und das tut sie genau dann, wenn man zugesteht, dass sie z.B. Sinn stiftet, was durch Rationalität nicht geschehen kann) muss sie auch außerhalb von Verbindlichkeit und diskutierbarkeit stehen. Religion ist eine narrative Struktur, deren Inhalt recht unverbindlich ist (weil das eine These ist, die euch gut schmecken wird, will ich dazu sagen, dass ich das ach vorher nicht anders gesehen habe, mir es aber jetzt erst als in diesem Kontext produktiv auffällt).
    Das Charakteristikum der religiösen Erzählung ist a) ihre Unverbindlichkeit. Diese Erzählungen erfüllen dann b) eine Funktion, die von Rationalität nicht erfüllt werden kann - du studierst doch SoWi. Systemtheorie, absolute Kontingenzbewältigungspraxis, Luhmann - klingelt es da? Und durch diese beiden Charakteristika ist gesichert, dass Religion keine Schnittmenge mit Rationalität hat. Sie liegt jenseits jeder Rationalität, und lässt sich daher auch nicht adäquat in solchen Dingen wie "Erklären" - klarerweise einem Element von rational geführten Diskursen - abbilden.

    Der eigentliche Fehler, der bisher gemacht worden ist, könnte sein: man hat Religion zu rationalisieren versucht. Man möchte aus ihr etwas machen, was sie nicht ist. Etwas, das man dann in die Verbindlichkeiten der Rationalität pressen kann, um es am absoluten Maßstab der Rationalität zu messen. Ganz offensichtlich ist man hier zu wenig vernunftkritisch, und erwartet von der Rationalität viel zu viel. Ich verstehe nicht, warum man eine radikal rationale Normbegründung für so plausibel hält.

    Jeder Mensch braucht Religion. Und diese ist nicht als theistisch zu denken; damit sind schlicht die Überzeugungen gemeint, mithilfe derer wir unser Handeln als nicht bloß zufällig zu verstehen beginnen. Die gleichzeitig eine emotionale Daseinsbewältigung darstellen, eine Sinnstiftung - zum Teil auch, weil sie Handlungen in Bezug auf Interpretationen "gut machen".

    Was Religion historisch war, ist, wie gandro schon sagte, für meine Ausführungen mehr oder weniger egal. Ich habe ja bereits in Frage gestellt, ob der "griechische Kleinbauer" überhaupt religiös ist, wenn er metaphysische Spekulationen als Welterklärung verwendet.

    Der Punkt bei der Kausalität ist nicht, dass sie per se schlecht ist oder dass wir aufhören sollten damit unsere Welt zu erklären. Seit Kants Erkenntnistheorie ist es aber eine sehr verbreitete Meinung, dass das einzige, was wir sehen die Abfolge von Ereignissen ist, und dass Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf diese Ereignissfolgen von uns projiziert werden und nicht per se in unserer Wahrnehmung enthalten sind. Wie die Dinge an sich sind, wissen wir nicht; und gandro wollte Religion den Zweck zuschreiben, zu spekulieren, wie sie an sich, hinter der Wissenschaftlichen Erklärung (die ja solche Kategorien wie Ursache-Wirkung braucht), sind.Das habe ich aber zurückgewiesen, weil es das Projekt der Sinnstiftung von Religion ebenfalls nicht wirklich in den Blick bekommt, und Religion in diesem Konzept ebenfalls ein rein deskriptives Aussagesystem bleibt (wenn auch eines, das durch wissenschaftliche Erkenntnisse prinzipiell nicht revidiert werden kann).

    Desweiteren möchte ich mich auch davon distanzieren, Apologet von Kirchen und bestimmten Glaubensgemeinschaften zu sein. Wahrscheinlich würde ich sogar verurteilen, wie die meisten ihre Religion ausüben. Die Provokation, die ich begehe, ist, Religion eine Funktion zuzuschreiben, die von keinem anderen System (z.B. Wissenschaft) befriedigt werden kann, und deren Erfüllung ein menschliches Bedürfnis ist. Das Wort "Religion" erfüllt dann eine gewaltige Aufgabe, nämlich nicht nur diese, all jene Geschichten unter diesem Wort anzusiedeln, die irgendwie von "Gott" handeln, sondern alle fiktiven Geschichten und Überzeugungen, die wir entwickelt haben, um Sinn zu spenden. Darunter fallen wahrscheinlich sogar solche fiktionalen Narrative, die den Kampf gegen Bürgerrechtsverletzung und Informationsklau rechtfertigen.
    Jeder Mensch braucht eine gewisse Menge rein fiktionaler, also nicht wissenschaftlich/logisch gerechtfertigter, Überzeugungen, Geschichten, Glauben um sein Handeln, Denken, Bewerten überhaupt strukturieren zu können. Jeder Mensch, der sein Handeln und die Bewegungen seines Körpers nicht als bloße Zufälligkeiten begreift, braucht irgendwie eine Geschichte, braucht Überzeugungen, die eine Struktur über sein Handlen und Bwegen bringt (Ich habe es gemacht, weil [Geschichte/Überzeugung usw.].). Sofern diese Geschichte und Überzeugungen Sinn stiften und durch wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ersetzt werden können würde ich sie als religiös bezeichnen. Ich gebrauche das Wort in einem recht weiten, vielleicht auch schwachen Sinne, der auch an "Gott existiert" vorbeigeht (wenn man "Es gibt Gott" tatsächlich als eine (deskriptive) Existenzaussage liest, würde ich bestreiten, dass sie religiös ist).
    Die Frage ist auch, ob alle die Überzeugungen, die zur Rechtfertigung/Strukturierung (in diesem Kontext meine ich damit mehr oder weniger dasselbe) von Handlungen und Körperbewegungen dienen, durch wissenschaftliche oder vernunftmäßige Erkenntnisse ersetzt werden können.

    "Gefühle des Heiligen" - warum "Heilig" unbedingt theistisch denken? Ich glaube nicht, dass Religion zwingend mit Theismus etwas zu tun hat, und dann denke ich auch nicht, dass es das im Falle des "Heiligen" ist. Ich bin sicher, dass jeder Dinge hat, "die ihm/ihr heilig" sind, und darunter nicht nur Ikonen und Kruzifixe sind. Dass jeder Dinge hat, denen man eigentlich grundlos ehrfürchtig begegnet. Sei es eine Symphonie von Beethoven, eine Platte, mit der man aufgewachsen ist, oder das Grundgesetz, dessen Bürgerrechte "einem heilig sind." Jeder hat Dinge, die er besonders geschützt oder besonders exponiert und scheinbar grundlos und mit mitunter recht großem Aufwand aufbewahrt. Ist das kein Gefühl des Heiligen?

    Wo braucht man noch Religion?
    gandro hat eine epistemische Kritik geübt. Mit Wissenschaft weiß man nicht alles; "Ursache" ist eine Verstandeskategorie, die man erst auf die Wirklichkeit anwendet und nicht aus der Wirklichkeit entnimmt (Kants kopernikanische Wende natürlich). Mit Wissenschaft können wir nicht wissen, was wirklich hinter unseren Wahrnehmungen liegt, wie die Welt eigentlich wirklich auch dahinter funktioniert; und hier kommt in gandros Ausführungen dann Religion als eine spekulative Erzählung dazu. Aus diesen Ausführungen spricht weiterhin ein Paradigma, das Religion als eine Erzählung ansieht, die versucht ontologische Aussagen zu treffen - darüber, was ist/was der Fall ist.
    Ich würde weiter gehen, und sagen, dass auch dies noch nicht das eigentlich Religiöse trifft. Wo braucht man noch Religion? Offenbar nicht, um zu beantworten, wo wir faktisch herkommen oder wo wir faktisch hingehen werden - und nicht einmal, um hinter den wissenschaftlichen Antworten noch weitere Spekulationen darüber anzustellen, was ist. Religion braucht man, um sich zu diesen Fakten irgendwie zu verhalten. Religion deutet die vorhandenen Fakten als irgendwie sinnvoll, spendet emotionale Bewältigung; ich finde die systemtheoretische Position der Religion als "Kontingenzbewältigungspraxis" gut. Es gibt und wird keine wissenschaftliche Erkenntnis geben, die mir sagt, ob der Weltlauf insgesamt sinnvoll oder absurd ist, wie ich mich zu der Welt und anderen Verhalten soll. Grimms Märchen leisten das auch nicht; wiederrum soll damit Religion als etwas karikiert werden, das es nicht ist (Grimms Märchen sind bloß moralische Lektionen).

    Wenn man Religion als mit Wissenschaft strukturähnlich ansieht, dann bekommt man auch nicht gewisse Gefühle des Heiligen in den Blick bzw. kann sie nicht adäquat verstehen. Wenn Religion nur durch wissenschaftliche Welterklärung ersetzbar ist - was ist dann mit solchen Gefühlen des Heiligen? Warum fühlen selbst Wissenschaftler Ehrfurcht vor gewissen Phänomenen in der Welt? Religion ist mehr als Spekulation über das, was ist.

    Dem ersten Absatz stimme ich zu, dem zweiten nicht. Ich glaube, gerade wenn man Religion als Antworten auf Fragen wie den Sinn des Lebens usw. versteht, bewegt sich Religion in einem Bereich neben/hinter Wissenschaft, kann dieser also nicht widersprechen. Wenn Wissenschaft Religion widersprechen könnte, dann heißt das entweder, das Wissenschaft uns etwas über den Sinn des Lebens uns Werte erzählen kann (das kommt mir unsinnig vor) oder es heißt, dass man ein karikierendes Bild von Religion zeichnet, in dem es garnicht mehr fähig ist, Sinnfragen zu beantworten (in dem es nur eine andere theorie neben den wissenschaftlichen ist, z.B. im Kreationismus wie gesagt).
    Religiös liest man die Bibel erst, wenn man die Sätze nicht als Aussagen darüber, was in der Welt historisch passiert ist, liest, sondern sie als Metaphern begreift. Als Weltdeutungen, die Sinn stiften. Sobald man dies tut, können sie wissenschaftlichen Aussagen aber nicht widersprechen, weil wissenschaftliche Aussagen niemals solche sein können, die Sinn stiften (und aus ihnen auch nie solche folgen). Also, ich meine, der Punkt ist eigentlich ganz simpel, habe es oben wohl etwas diffus geschrieben. Wir haben es sozusagen mit einem Kategorienfehler zu tun, wenn wir sagen, dass religiöse Aussagen, die sinnstiftend sind, den Bereich der wissenschaftlichen Aussagen tangieren. Ich würde soweit gehen zu sagen, dass man die Aussage "Es gibt Gott" nicht wie "Es gibt x" lesen kann; vielleicht ist es keine Existenzaussage

    Wäre dafür den gröbsten eud0r aus dem Thread zu entfernen und nach Philosophie & Kunst zu verschieben.

    Immer wieder hört man, dass Religoin und Götter bloß den Zweck der Welterklärung hätten, und das Religion jetzt, wo es auch ne wissenschaftliche Welterklärung gibt, mehr oder weniger überflüssig oder gar irrational ist.
    Aber wenn das eine Kritik an Religion sein soll, dann kämpft man gegen einen recht einfachen Gegner. Zugeben mag man, dass der griechische Ziegenbauer um 750 v. Chr. so einen Glauben gehabt hat; aber offenbar kritisiert man heute keine stinkenden griechischen Ziegenbauern, wenn man eine Kritik an Religion üben möchte.
    In solcher "Kritik" oder in einem solchen Verständnis von Religion wird Religion zu einem Aussagesystem gemacht, das deskriptiven Inhalt hätte. Religion wird dann eine Theorie, was der Fall ist. Wenn man sagt, dass sich Religion und Wissenschaft widersprechen, dann muss man annehmen, dass sowohl Wissenschaft als auch Religion jeweils Narrationen über den gleichen Gegenstandsbereich, bloß mit unterschiedlichem (und im Falle der Religion in sich widersprüchlichem) Inhalt sind. Dieses Verständnis, nach dem sich Wissenschaft und Religion widersprechen, impliziert, dass man Wissenschaft und Religion für strukturäquivalent hält. Die Konsequenz dieser Sicht ist ein Religionsverständnis, wie es nichtmal mehr im 13. Jahrhundert gepflegt worden ist: dass man, wenn man die Bibel aufschlägt, eine (fiktive/falsche/ungesicherte/widersprüchliche) Antwort darüber bekommt, was der Fall ist. Schwimmt Eis auf dem Wasser? Schlagen wir die Bibel auf! Warum bewegen sich die Sterne mit gewissen Regelmäßigkeiten? Ah warte, da habe ich neulich was im Johannesevangelium gelesen... - es ist klar, das ist nicht das, was Religion (heute) ausmacht. [Edit: Man könnte sich fragen, ob der antike Mensch, der Götter als Erklärung verwendet hat, religiös war]
    Übrigens ist es eben genau dieser Fehler, den Kreationisten begehen. Die lesen die Bibel auch wie einen Tatsachenbericht, zu dem man andere Phänomenmengen (Fossilien) konsistent machen muss. Die lesen die Bibel nicht in einer Weise, die wir als originär religiös bezeichnen würden. Die betreiben schlicht und einfach Pseudowissenschaft, weil sie innerhalb der wissenschaftlichen Struktur vermeintlich religiöse Inhalte einbringen wollen.
    Vielmehr hat Religion die Funktion, das, was der Fall ist (und was in den wissenschaftlichen Narrationen repräsentiert ist) unter bestimmte Interpretationen zu bringen, die es für uns erträglich machen. Aussagen, die originär religiös, von denen man sagen kann, dass sie gleichzeitig nicht Wissenschaft sind, zielen in einen Bereich, der hinter Wissenschaft und Faktischem liegt.

    Ich denke deswegen auch nicht, dass man über Moses, Jesus oder Mohammed sagen könnte, sie wären religiöse Menschen gewesen. Wir müssen uns Moses, Jesus oder Mohammed eher als ernüchterte, moderne Menschen vorstellen. Indem sie Gott gesehen haben, haben sie erkannt, was wirklich ist. Und damit hatte "Gott" nichts mehr religiöses an sich. Er war keine Entität mehr, die Sinngebung versprach; er ist auf einmal ein echtes Ding gewesen.

    Zitat von niwax

    So ungefähr der hundertste "Was ... ihr gerade?"-Thread, aber trotzdem interressant.
    Ich lese grad "Fermats letzter Satz", für Mathemöger ein informatives Buch, sonst eine gute Geschichte.

    Ja, Wiles hat halt echt Pech gehabt, dass er doch noch zu alt für die Fields-Medallie geworden ist... :D

    Winfried Menninghaus - Das Versprechen der Schönheit

    Eigentlich hätte ich mir viel lieber ne Stellungnahme zu der Frage, ob Sprache unser Weltverständnis - auch in den Naturwissenschaften - formt. Wie gesagt: man muss sich vergegenwärtigen, dass aus der Physik keine neuen Begriffe geschöpft worden sind, sondern dass die Sprache, die in der Antike auch schon von zahnlosen Bauern und stinkenden Viehzüchtern verwendet worden ist offenbar als für Physik ausreichend genommen wird. Innerhalb von Kalkülen gibt es wahrscheinlich Beweisstrukturen, die diese Bauern nicht unbedingt beherrscht haben - aber die Individuation von Phänomenen im neuroalen Rauschen ist bei ihnen die gleiche wie beim Physiker. Der Physiker hat keine neuen Entitäten erfunden/gefunden, er projiziert seine Theorien in eine begriffliche Struktur hinein, die beim Kleinbauern eben die gleiche ist: Raum, Zeit, Energie usw. Physik ist eigentlich kein neues Weltverständnis, sondern bezieht ein vorhandenes Weltverständnis auf gemessene Phänomene.
    Ganz offenbar basiert Sprache nicht auf Beobachtung; das Verhältnis ist anders herum. Sprache ist die notwendige Bedingung für Beobachtung (alleine auch, weil eine Beobachtung mehr eine sprachliche als mentale Entität ist). Beobachtungen individuieren neuronales, elektronisches Rauschen als Objekte erst durch Abstraktionsebenen, die basaler sind als die resultierende Beobachtung, die die Beobachtung erst konstituieren - und hier gehört Sprache definitiv dazu.
    Weiterhin möchte ich einen Angriff gegen die Absolutheit von Wissenschaft fahren, der aber nicht mehr Bezug nimmt auf die Beteiligung von Philoophie an der Wissenschaftsgeschichte, die aber leider wohl auch mit unwesentlichem Anteil rekonstruiert werden kann.

    Naja, du hast nich reagiert; ich weiß ja, dass ich zum Lesen wohl nicht gerade eingeladen habe, und deswegen eigentlich auch die Konsequenzen zu tragen weiß... ;)

    Die anderen Erläterungen sind mathematisch mutmaßlich interessant; ich verstehe sie aber nicht, und naja, ich denke ich muss und möchte mich nicht darum bemühen, sie zu verstehen. Du hast gandros "Gesetze der Logik" in ein "die mathematische Logik nach Peano" übersetzt, was meiner Ansicht nach keine gerade sinnvolle Interpretation ist; sie ähnelt bald eher einer Karikatur. Du diskutierst gerade anscheinend die Leistungsfähigkeit der mathematischen Logik in Bezug auf semantische Strukturen; ich finde diese Beschränkung auf mathematische Logik irgendwie ein bischen Stumpf. Logik ist, wie du es besser wissen wirst als ich nicht einfach mathematische Logik. Nehmen wir den Satz doch einfach mal stumpf prädikatenlogisch, wie es gandro wohl am nächsten käme - welche Probleme haben wir dann noch? Eigentlich ist mir die Antwort auf diese Frage egal

    Wahrscheinlich sollte ich auch nochmal präzisieren: ich habe mich in meinem Beitrag oben allein auf Peanos arithmetischen Axiome beschränkt, wenn ich von ihm geredet habe.

    naja gut, aufklärung... ob sich die wissenschaftsgeschichte der physik ohne philosophie rekonstruieren lässt - ich habe da den einfluss machs auf einstein schlicht so ein bischen runtergeredet, ohne es näher zu wissen... ;) finde, bezüglich der physik war ich eigentlich recht undeutig, und wahrscheinlich ist das auch unsicher. bei der mathematik glaube ich ist es wahrschienlich auch nicht ganz klar dargestellt; aber es ist schonmal richtig, denke ich. unabhängig meiner meinung; ich habe da in jedem fall eine streitbare these vertreten

    den späteren teil vom verhältnis wissenschaft - sprache; ich habe das als replik auf ein paar bemerkungen von klemmi geschrieben, und, weil ich mehr als nur "pro wissenschaft" sein wollte. ich glaube, klemmi versteht physik als etwas sehr selbstständiges, ganz objektives, allmächtiges; damit wollte ich ein bischen brechen, vielleicht um darüber streit zu haben ;D

    So, mal ein Thread mich interessiert - ich habe Lust ihn auszugraben. ;D

    Was der ganz basale Punkt ist, den gandro glaube ich machen möchte: Davon abgesehen, (1) dass wir ohne Philosophie keine Physik hätten, (2) hätte sich die Physik auch nicht zum jetzigen Niveau emporschwingen können, wenn hier nicht Philosophen etwas geleistet hätten.
    Bei (1) bin ich nicht sicher; der radikale Wandel der wissenschaftlichen Methoden (Beobachtung, Experiment) ist von Philosophen - z.B. Roger Bacon im 13.(?) Jahrhundert - zwar irgendwo derart vorbereitet worden, dass es denkbar wurde, sich der empirischen Natur zu widmen (die "Entdeckung der Wirklichkeit" ist im Mittelalter ein Projekt, dass von der Philosophie ausging). Die letztliche Ausformung dieser Methoden ist aber durch die Naturwissenschaften selbst, und nicht durch philosophische Reflexion geschehen. Kants Kritik der reinen Vernunft möchte den Wissenschaften ein Fundament liefern; er bezieht sich beispielsweise auf Newtons Theorie, die vor ihm entstanden ist - das Fundament wurde nachgereicht. Und inwiefern sich Einstein auf Newton philosophisch bezieht weiß ich nicht; soweit ich weiß ist Lichtgeschwindigkeit ein Postulat, dass den newton'schen Äther ersetzen soll (der war ja ein Postulat, um die Annahme von kausaler Verursachung ohne räumliche Nachbarschaft zu vermeiden) (?). Anyway; die Naturwissenschaften entwickeln sich inhärenter als man glaubt, und Epistemologie/Wissenschaftstheorie entsteht erst nachdem die Wissenschaften schon funktionieren, das sind Rekonstruktionen und keine normativen Projekte, nach denen sich Wissenschaftler gerichtet hätten (sie haben es zum Glück seit der Neuzeit nicht mehr getan). Ob jetzt die eine oder andere Zeile von Mach Einsteins Geist beflügelt hat; ja gut, aber das würde ich als nicht so maßgeblich ansehen.

    Das gilt auch für die Mathematik. Selbst auf der paradigmatischen Ebene der Diskussion um die richtige Fundierung in Axiomen - die Wandel gingen immer von neuen Mathematikern bzw. Mathematiken aus. Bevor Aristoteles den antiken Axiomenbegriff expliziert hat, gab es Mathematiker, die wie Euklid verfahren sind. Weil im 19. Jahrhundert dann die nichteuklidische Geometrie von Bolyai und Lobatschew entwickelt werden, verfällt Evidenz als Kriterium für die Axiome - und sodenn tritt Hilbert mit seiner finistischen Beweistheorie auf den Plan, aus dem sich wegen Gödel der schwächere, und noch heute akzeptiere Formalismus sich entwickelt. Zu Hilberts Beweistheorie ist die systematische Korrespondenz in der philosophischen Erkenntnistheorie höchstens der sog. Kohärentismus, der im Wiener Kreis entwickelt worden ist - aber eben auch erst nach Hilbert. (Edit: Aussage des Absatzes sollte sein: schaut mal, das sind alles Mathematiker, die die Umbrüche im metamathematischen denken eingeleitet haben, deswegen das Name-Droping).

    Und zu (1): ich würde sagen, der Punkt ist entweder trivial oder nicht richtig. Wir könnten das konkretisieren: ohne Vorsokratik (und spätere Philosophie...) hätten wir keine westliche Wissenschaft in der heutigen Form. Das ist denke ich definitiv richtig.
    Doch was folgt daraus? Wir können zwei Interpretationen dieser Tatsache unterscheiden: entweder wir verstehen die (a) griechische Philosophie als Wissenschaft, die noch keine Spezialisierung kennt, (b) oder wir verstehen sie als echte, spezifische Philosophie.
    Unter der ersten Interpretation ist der Satz offenbar tautologisch: ohne Wissenschaft keine spätere Wissenschaft. Die zweite Interpretation ist die hier interessante; und die halte ich für falsch.
    Mathemaitk hat sich im alten Orient als praktisches Erforderniss schon zu einem recht hohen Niveau entwickelt. Mathematiker haben in Griechenland axiomatisch strukturierte Theorien verfasst, bevor Aristoteles den Axiomenbegriff expliziert hat (der Titel "Die Elemtente" bzw. im Original "Stoicheia" ist ein Titel der längere Tradition hat; Mathematiker vor Euklid haben Werke verfasst, die wahrscheinlich schon sehr ähnlich dem von Euklid sein mussten - das erste etwa 430 v. Chr., vor Aristoteles). Das heißt, dass auch hier erst die philosophische Rekonstruktion / Explikation der sich inhärent entwickelnden Wissenschaft periodisch verschoben ist. Insofern lässt sich wahrscheinlich eine Mathematikgeschichte rekonstruieren, die auf philosophische Reflexionen nur als Explikationen des schon geleiisteten mathematischen Tuns bezieht (wow, für mich ist das ein Moment einer ganz neuen Erkenntnis, weil ich das in meiner Facharbeit noch anders gesehen habe). Philosophie hat nichtmal im antiken Griechenland, nichtmal Aristoteles hat Euklid paradigmatisch vorbereitet, möchte ich jetzt behaupten. Wahrscheinlich hat man es hier nicht nur mit kontingenten Momenten zu tun; es wäre interessant zu fragen, was der systematische Grund hierfür ist.

    Fazit: Philosophie inspiriert die Wissenschaft kaum mehr, als der herunterfallende Apfel Newton inspiriert hat. Selbst in paradigmatisch sehr subtilen Fällen können wir die (zumindest die mathematische) Wissenschaftsgeschichte so rekonstruieren, dass Philosophie nur ein immer preiodisch verschobenes, explizierendes Anhängsel ist. Diese Explikationen sind nichtmal die Provokationen, die die paradigmatischen turns hervorrufen; auch die geschehen vor ihrer jeweiligen Explikation. Euklidische Geometrie ist ohne Philosophie entstanden und niedergegangen.

    (Man könnte noch eine feinere Körnerung einstellen: die syllogistische Logik des Aristoteles würde ich als eine sehr unphilosophische Leistung ansehen, als eine logisch/mathematische eben. Aristoteles führt Variablen, Differenzierung von Prämissen und Konklusion ein usw. Er stellt basale Syllogismen auf (A - B, B - C => A - C), auf die sich die anderen dann reduzieren lassen sollen usw. usw.. Das hat nicht viel mit Philosophie zu tun; die philosophischen Leistungen, Kategorienlehre, Explikation des Axiomenbegriffs usw. wiederrum stehen der Mathematik nach.
    Es ist richtig zu sagen: ohne Aristoteles Logik hätten wir keine Logik von Peano erhalten. aber es ist falsch zu sagen, dass Peano also ne philosophische Vorbereitung hatte (und das stimmt auch nicht in Bezug auf die Axiome der Peano-Arithmetik, siehe oben).

    Bis hier hin vertrete ich also eine Position, die die Selbstständigkeit von Wissenschaft gegenüber philosophischer Reflexion hervorhebt. Ich möchte in jedem Fall aber gegen Positionen argumentieren, die eine Selbstständigkeit von Wissenschaft/Beobachtung gegenüber Sprache, also an und für sich sozusagen, vertreten. Wissenschaft ist begrenzt und etwas auf der Erde stehendes. Bevor ich mich verschiedenen Punkten von Klemmi widme, die das Gegenteil suggerierten, kurz vielleicht eine Erläuterung wegen analytischer Philosophie/Wiener Kreis.

    Die meisten Mitglieder des Wiener Kreis (Mach gehört übrigens nicht dazu; der war schon tot seinerzeit) vertreten den sogenannten logischen Positivismus. Der Wiener Kreis möchte ein für Sätze ein Sinnkriterium angeben, das entscheidet, welche Säze bedeutungsvoll (~wissenschaftlich) sind, und welche bloß zum metaphysischen gesülze der Zeit gehören. Und dieses Kriterien soll beim logischen Positivismus sein: der Satz lässt sich verfizieren[i]. Das heißt, er referiert eine Struktur in der Wirklichkeit, die man empirisch messen kann, und mit der man eine entsprechende Aussage verifizieren kann.
    Der frühe Wittgenstein des Tractatus hat diese Ansicht auch verteten. Seine Position geht noch ein bischen weiter; sie sagt, alle Probleme der Philosophie wären sprachliche Probleme. Wenn wir Sprache klar fassen, wenn wir sinnlose Aussagen (das sind Aussagen, die nicht verfiziert werden können/nicht Wirklichkeit korrekt abbilden) aus unseren Argumentation eliminieren können wir die Probleme der Philosophie lösen. Philosophieren heißt Sprachkritik.
    Und weil Wittgenstein mit dem Tractatus alle Probleme der Philosophie gelöst hat, ist er erstmal in eine tiefe Depression verfallen und Grundschullehrer geworden - um später seine eigenen Ansichten zu destruieren. Er vertritt dann eine Position, die Bedeutung nicht mehr in der Korrespondenz zur Wirklichkeit verortet, sondern Bedeutung von sprachlichen Zeichen in der [i]Verwendungsweise
    sieht. Das heißt: ein Satz bezieht sich nicht primär auf wirkliche Strkturen sondern auf die soziale Verwendung, und gewinnt erst im sozialen Kontext Bedeutung. Ne berühmte Anekdote ist: der frühe Wittgenstein ist auf einem italienischen Philosophiekongress. Jemand fragt Wittgenstein: was bedeutet das? und macht diese italienische Geste, wo man mit dem Handrücken den hals bis zum Kinn herauffährt (entspricht etwa unserem Mittelfinger). Und Wittgenstein hätte hieraus erkannt, dass sprachliche Zeichen im sozialen Kontext bedeutungsvoll werden.
    Kurz und bündig: Wittgenstein hat zuerst eine Art Korrespondenztheorie der Bedeutung vertreten, die im Wiener Kreis üblich war; und er hat dann eine Wendung hin zur Bedeutung nicht in Bezug auf Welt sondern in Bezug auf soziale Strukturen gemacht.
    Also der Wiener Kreis gehört in die 20er/30er bis ungefähr zum Anschluss Österreichs (der Begründer, Moritz Schlick ist 1938 oder so von einem verrückten erschossen worden). Wittgenstein hatte seinen Tractatus glaube ich 23 veröffentlich; er hat bis in die 50er gelebt. Wann genau er sich vom Wiener Kreis distanziert weiß ich nicht; wahrscheinlich in den 30ern oder in seiner Zeit in Cambridge.

    Zu klemmi:
    "Ich lehne Denkweisen wie die des Wiener Kreises in keiner Weise ab, weil sie fundiert sind, weil sie sich auf Greifbares (die Beobachtung) stützen und nicht versuchen, eine menschliche Abstraktionsebene (z.B. Sprache) als Basis zu sehen,um die Natur zu verstehen."
    "Das verstehe ich vielleicht gerade falsch, aber sollte nicht anhand von Beobachtungen der Welt die Sprache sich den Beobachtungen anpassen.
    Versucht die sprachanlytische Philosophie das nicht genau andersrum?"

    Seit 2009 arbeite als Fremdemführer und halte in Köln Führungen durch die romanischen Kirchen ab. In der Zwischenzeit habe ich mich in das Vokabular der Architektur von Kirchen ein wenig eingearbeitet. Ich weiß jetzt, was eine Fiale, ein Tympanon oder eine Lisene ist.
    Ich stelle mir vor, wie ich z.B. 2005 mal in eine Kirche gegangen bin. Das basale Vokabulra der deutschen Sprache habe ich ja; ich sehe ein Portal, Türme, Bögen, Fenster. Aber - da ich keine Ahnung von Kirchen habe - sehe ich zu diesem Zeitpunkt ein Mittelschiff, einen Spitz- und einen Rundbogen, ein gotisches und kein romanisches Fenster? Unzweifelhaft ist ja ohnehin, dass ich keine Lisene, Fiale oder Tympanon gesehen/erkannt habe.
    Die Individuation von Dingen als einem Ding in der Welt geschieht erst vor dem Hintergrund schon vorhandener Begriffe. Gegenüber dem Welterleben ist Sprache primär. Wir erkennen etwas nicht, wenn wir dafür keinen Begriff haben; ich habe eine Säule in meiner Beobachtung nicht in Kapitell, Basis und Schaft (?) zerlegen können, solange ich nicht dafür die Begriffe hatte.
    Meine Sprache strukturiert offenbar meine Beobachtung, und nicht meine Beobachtung meine Sprache. Wissenschaften sind durch die Art und Weise, in der wir Sprache verwenden, konstituiert. In der Physik wird es offenbar keinen Neologismus geben, der nicht Platzhalter für einen mathematischen Term ist. Die Physik hat unser Weltverständnis auch nicht grundlegend verändert, weil wir immernoch in denselben Begriffen denken - Zeit, Raum, Energie. Die Physik hat keine neuen Worte oder Begriffe erzeugt, die die Welt feiner individuieren würden, als es eine normale, eloquente Sprache nicht normalerweise schon tun könnte. Die Physik hat schlicht nicht die Phänomene vermehrt oder noch weiter zerlegt.
    Kant hatte hier einen guten Punkt. Erkenntnis ist kein Prozess, der Objektgeleitet wäre. Er ist subjektgeleitet. All diese Wissenschaft funktioniert nur als eine große Projektion auf unsere Anschauungen; weil wir auf die elektronischen Signale, die uns unsere Sinne geben, Strukturen wie Zeit, Raum, Kausalität projizieren müssen, um sie vertsehen zu können. Bei analytischen Philosophen ist Kant hierfür und - soweit ich weiß - auch ansonsten in keiner Weise unbeliebt.

    Ludwig Wittgenstein hat in seinem Tractatus die These vertreten: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt." Bekanntlich wollen Philosophen nichts über die Welt wissen, sondern eigentlich nur etwas über unser Weltverständnis herausfinden. Und ich glaube, wenn man die These vertritt: "Die Art und Weise, in der wir sprechen, ist für unser Welterleben konstitutiv" dann ist es doch schon nen guter Ansatz, durch die nähere Betrachtung der Sprache mehr über die Art und Weise herausfinden zu wollen, in der wir die Welt wahrnehmen.

    Nachtrag: Klemmi, das müsstest du mir erklären:
    "Dia Mathematische Logik wurde von Peano entwickelt. Das war ein Mathematiker, der die Axiome der modernen Logik entwickelte und aufstellte und damit auch den Grundstein für weitere Untersuchungen legte. Dabei sind die Operationen und Gruppen der Logik formal von den bereits bekannten Operationen aus anderen Räumen übernommen wurden. Leibniz hat zum beispiel lange versucht, diese formale Logik mit der Lehre der Logik von Aristoteles in Einklang zu bringen. Erfolglos."
    1. Welche Operationen? Was sind "Gruppen der Logik"? Aus welchem Räumen wurden die übernommen? Und was heißt hier "formal [aus Räumen] übernommen"?
    2. Inwiefern ist formale Logik mit Aristoteles nicht vereinbar? Die Syllogismen, die Aristoteles als Basal angesehen und hat, und auch die Schlüsse, die er auf die 8 basalen Syllogismen zurückführen konnte, sind offenbar sehr leicht in nem PL1-Kalkül des natürlichen Schließens beweisbar. Was ist hier diese formale Logik?

    Naja gut, ich würde ehrlich gesagt eher sagen man setzt sich irgendwo in nen Cafe oder ne Kneipe, trinkt ein bischen und quatscht was oder? Wollten jetzt die meisten beim Treffen unbedingt Netz dabei haben?

    Freut mich aber übrigens, wie viele an dem Treffen vlt interessiert wären. Macht Lust ;D